Code of Theater
Labor für plastisches Denken

Ortegas Zentaur

von Detlev Schneider


"Für Aristoteles ist der Zentaur möglich, für uns nicht, denn die Biologie lässt es nicht zu."


Das lese ich soben in Ortegas y Gassets Meditationen über Don Quijote. Es gibt mir einen wichtigen Wink für unsere Diskussion über Virtualität
Nämlich so : beim Virtuellen, dem per Definition "Möglichen, zu Ermöglichenden“, kann es in den Künsten nicht einfach um die Machbarkeit von etwas
gehen, das wir bislang technisch nur nicht machen konnten und es nun können.
Es kann nicht nur gehen um digital erweiterte Variationen der üblichen Praktiken, Methoden, Regeln, Settings, ihrer Verhältnisse und
Verbindlichkeiten. Nicht um digital modifizierte Kopien des Faktischen. Martina und ich erwähnten da Kai Voges Digitaltheater, und Jo seine
Erfahrungen in Second Liive. Das wäre banal.
Vielmehr geht es um bislang Ungedachtes. Phantasmagorien, Synapsen, Bilder, Klänge,welche wir mit diesen Algorithmentechniken überhaupt
erst denken können.  Und es geht darum,warum wir sie ins Kunstwirkliche überführen wollen. Und wie sie dort wirken können, um zurückzuwirken auf
unsere Einbildungskraft. Wie sie diese erweitert und vielleicht in Sphären führt, die bislang in unserer Selbst- und Weltwahrnehmung gar nicht vorgesehen waren.
Auch um die Demontage vermeintlicher Gewissheiten. Und wie Unwahrscheinliches zum "wahren Schein und ernsten Spiel" wird, das Goethe vorschwebte.
Hier fällt mir der schöne Satz von Peter Greenaway ein, der Film sei noch solange nicht bei sich angekommen, solange die Kamera noch durch das
Auge des Kameramanns schaut. Und Novalis' Wort, das Poetische sei "das echt absolut Reelle".
So stellt sich mit „dem Virtuellen“ neu die alte Frage, was die Kunstwirklichkeit sein kann für die ausserkünstlerische Wirklichkeit, für deren witschafts- und
finanzökonomischen, gesellschaftlichen, politischen Verwertungskreisläufe. Ob sie deren zweckgesteuerter Routine eine Praxis des morphenden und
flanierenden Imaginierens und Kommunizierens entgegensetzen kann, die sinnreich ist gerade weil sie zweckfrei bleibt. Als dasjenige über das Notwendige hinaus, welches am allernotwendigsten ist. Uralte ästhetische Diskussion über das Spiel und das Faktische.
Wenn wir den Zentaur nicht mehr für möglich halten, halten wir womöglich unsere Imaginationen nicht mehr für wirklich, also nicht für wirksam.
Das wäre ein fataler Verlust, und es würde den Künsten nur noch die folgenlose Ornamentierung der Faktenwelt zuweisen. Oder, - profaner noch, - die Kunst in den Dienst nehmen für die Bewältigung derer je aktueller Dilemmata, etwa als rhetorisches Instrument politischer Meinungsbildung und sozialer Verteilungskämpfe.
Kunst wird aber nicht politisch, indem sie die Konflikte bebildert, die wir in der politischen Wirklichkeit austragen müssen. Ganz gegenteilig meint Müller, sei es
die Aufgabe der Kunst "die Wirklichkeit unmöglich zu machen". Das hiesse, die Künste nicht zu denken als ein Anderes der Politik, sondern als das
Aufzeigen der Grenzen von deren Logik.


Ortegas Kentaur des Aristoteles erscheint mir dafür als eine feine Denkfigur.