Detlev Schneider
ich möchte zusammenfassen,
was mir aus unseren lebhaften gesprächen im alten jahr bleibender gewinn war. wenn ich das jetzt aufschreibe, laufen natürlich die erinnerungen
an unsere gespräche zusammen mit meinen früheren überlegungen und versatzstücken zum thema. es geht um plastisches denken in den künsten, und uns ging es dabei besonders um die performativen künste. die waren seit ihrem erscheinen im altgriechischen theater auf das versenden von botschaften aus, und sie schlossen ihre adressaten zur empfängergemeinschaft zusammen. das war sinnvoll, denn es sollten denkweisen und wertsetzungen eingeübt werden, welche die polis erst funktionabel machten.
wer den verdienstausfall der mehrtagelangen aufführungen nicht tragen konnte, bekam ihn vom staat gezahlt, - theater begann als staatstheater. war auf kollektivierung aus, nicht aufs individuell-diskursive erleben und verhalten (dis-kurs = vom kurs abweichen, hin-und hersteuern) dass ist seitdem wohl der theater-DNA eingeschrieben, seinen raum- wie seinen denkdispositiven. offen oder unterschwellig verharrt es dabei „die sinngebung nicht dem zuschauer zu überlassen, sondern noch immer auf einer interpretation für den zuschauer zu bestehen, - eine paternalistische haltung“, wie andrzej wirth befindet, der letzte brecht-schüler.
das ist auch in unseren überlegungen die ausgangssituation.
plastisches denken meint deren transformation. meint die befähigung aller am spiel beteiligten zur selbststeuerung – des spielens und des erlebens. selbstwählendes kalibrieren der aufmerksamkeit auf wechselnde perspektiven und situationen. wie es der kubismus vor einem jahrhundert in die malerei brachte und damit die bildende kunst aus dem modus bildhafter repräsentation herausführte.
herausführt auch aus der absurdität, von der jo redet, dass spontanität nur als wohlgeprobte geste vorkommt, und alles wirklich spontane als fehler gilt, für den sich die spieler und der ganze betrieb schämen.
wir überlegten, - anhand unserer jeweiligen erfahrungen und mit jos jüngsten online-beispielen vor augen, - wie arbeit am plastischen denken in den performativen künsten vorgehen könnte.
es wäre nicht mehr auf abgeschlossene „werke“ aus, auf überwältigende künstlerische behauptungen, die es ihrem publikum zum applaudieren darreicht. vielmehr bewegt es sich prozessual in raum und zeit, - nicht nur als metapher, sondern worttatsächlich. dies erscheint mir besonders wichtig, weil es nur so die tradierte sender-empfänger-konditionerung verlassen kann. weil es körperhaft das denken in fragmenten, fraktalen und facetten befördert.
es ermächtigt seine zuschauer, die verschiedenartigen impulse
in eigener verantwortung zusammenzufügen.
das fördert einen blick, der montierend vorgeht. der synaptisch ist und nicht hierarchisch. er flechtet die einzelnen spuren, - text, klang, sprechen, bild, licht etc. , - nicht mehr zum akkord, sondern trägt sie ihren zuschauern parallel und simultan an. polyphon, auch dissonant. überantwortet ihnen synapsen und synthese.
theater wird so als hyperraum verstanden, in welchem wir „navigieren
durch räumliche ordnungen, die weder linear verlaufen noch kausalen
bedingungen unterworfen sind,.... eine polylogische ordnung, durch die
sich der zuschauer mit seiner frei schweifenden wahrnehmung gewegt,“
prognostiziert die theaterwissenschaftlerin söke dinkla
statt des alten kollektivrituals ist dies ein rigoros individueller vorgang,
in dem jeder besucher zum autoren seines eigenen erlebens wird,
seines imaginierten gefüges.
hier liegen weite spielfelder für eine kunst, die zudem auf zeiteingreifende weise politisch ist, weil sie mit dem eigenverantworteten erleben das eigenverantwortliche handeln übt.
im spätherbst 1995, wenige monate vor seinem tod, sagt heiner müller
in einem seiner letzten gespräche mit alexander kluge: „die realität kann man nur sehen, wenn man sie in teile zerlegt, in segmente. wenn jeder zuschauer bewegt wird, die teile neu zusammenzusetzen, wird sie zu seiner eigenen wirklichkeit, auch in verbindung mit der eigenen traumwirklichkeit. das wäre ein theater der zukunft.(…) das war auch ein traum von brecht, und er hat es nie gemacht..“
grundlegend scheint mir dabei, dass dieser gestus des situativen suchens statt des findens von vorgedachtem auch die haltung der spieler, regisseure, dramaturgen, raumbildner ist. ihre eigene produktive unsicherheit und offenheit schafft erst die gespannte aufmerksamkeit
aller beim kunstvorgang anwesenden, der spieler wie ihrer gäste.
das führt notwendig zu weitreichend verändertem selbstverständnis dieser kunstberufe.
jo hat dies im tristan-projekt und den livingtypes-interfaces beispielhaft versucht, es ist das thema von forsythes späten tanzarbeiten mit ihren programatischen auslassungen, penelope stellt nur „präzis gearbeitete skizzen“ in den szenischen raum für alles weitere geschehen. es könnten viele, könnte vieles genannt werden.
bedeutsam ist in diesem zusammenhang, dass sich die künste einander annähern, sie bilden hybride. anne imhoffs und susanne kennedys arbeiten etwa sind ohne weiteres als mobile bildkunstbasierte environments zu lesen, - auf völlig konträre weise dabei.
und musikalische komposition versteht sich immer mehr als szenische raumkunst.
die digitalen technologien geben ihnen dafür werkzeuge in die hand,
die viele dieser projekte überhaupt erst denkbar werden lassen.
lange, ausführlich und kontrovers haben wir über „das digitale“ diskutiert, über digitalität und virtuelles.
Dabei legten wir auseinander, dass die algorythmischen techniken
in langer tradition stehen und es ihr prinzip ist, die komplexität der phänomene um eine oder mehr dimensionen methodisch zu reduzieren, um sie greifbarer (digit = finger), besser handhabbar zu machen. Und dies, um zu einer jeweils komplexeren stufe des analogen zu kommen.
höhlenmalerei als jagdzauber, sprache als verständigungsmedium, schrift als formalisierung der sprache, schriftdruck als erstes massenmedium, elektronische massenmedien dann als vorstufe
der digitalen kommunikationsformen- und distributionsstrategien.
als kulturtechniken durchdringen diese nun gravierend tiefer als
ihre vorgängertechniken alle gesellschaftlichen nervenstränge,
und sie irritieren das tradierte selbstverständnis der spezies, das ohnehin immer fragil und hochgefährdet war. sie legen seine widersprüchlichkeit und ratlosigkeit offen.
hier hat sich ein dringlicher operationsraum für die künste geöffnet, vergleichbar vielleicht dem der griechischen tragödie.
dennoch bleiben die digitalen technologien werkzeuge. für zwecke,
zu denen wir sie nutzen, gewinnen keine eigene wesenheit, bislang. bislang können sie nur mit demjenigen wissen umgehen, das genuin menschliches wissen ist, mit aus menschlichem wissen generierten informationen.
und nicht mit dem nichtwissen, wie ich einem wink von dirk beacker folge. und nicht dem wissen ums nichtwissen, folgere ich.
das bleibt in seiner geistigen ambivalenz die eigenheit der menschen, ihr privileg und kreuz.
bislang.
zum schluss was gänzlich analoges, passend, finde ich, allem vorherigen, das dispositiv einer hamletmaschinenaufführung von josef szailer in tokio 1996 :
„ schauspieler und zuschauer sitzen. gehen, stehen im selben raum.
kein licht schützt die spielenden vor den direkten blicken der zuschauer, kein dunkel bewahrt die zuschauer vor der konfrontation mit den agierenden. … die einheitlich schwarze kleidung ist ein indiz, aber nicht alle schwarz gekleideten sind schauspieler, zuschauer könnten ebenso angezogen sein und sind es. make-up weisser grund, augen und lippen schwarz, - nicht alle so geschminkten sind schauspieler : einige schreiben, einige zeichnen, einige gehen nur so herum, man weiss nicht genau, sie ordnen sich nicht zu den schauspielern und zu den besuchern. sie sprechen nicht. letzlich ist hier jeder besucher immer der einzige zuschauer und alle anderen sind in seinen augen agierende.“
müller sagt „ das theater kann sein gedächtnis für die wirklichkeit
nur wiederfinden, wenn es sein publikum vergisst. sein beitrag zur emanzipation des zuschauers ist seine emanzipation vom zuschauer.“