Code of Theater
Labor für plastisches Denken

                09 Negative Wirklichkeit und der blinde Fleck

 

Die WIRKLICHKEIT ist ein Netz aus Informationen, auf die wir Zugriff haben und in denen wir einen Zusammenhang erkennen. Der Begriff enthält weder die vollständige Information noch ist eine fehlerfreie Interpretation der Informationen garantiert. Es ist die Momentaufnahme einer Anschauung der Welt unter Weglassung aller störenden Faktoren, die uns die Gewissheit über das Wahrgenommene verweigern würden.
Infolgedessen könnte man auch von einer Wirklichkeitsannahme sprechen.

Im Grunde genommen gehen wir aber davon aus, dass die Wirklichkeit all das ist, was man sehen, hören, tasten, riechen und schmecken kann.

Kurz gesagt, alles was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Aber auch das, was passiert, ob es nun früher passiert ist, ohne dass wir Zeugen dieser Geschehnisse waren oder jetzt. Solange wir davon überzeugt sind, dass es tatsächlich passiert ist, halten wir es auch für wirklich.

Alles, was wir im Theater wahrnehmen, ist automatisch wirklich, da wir es ja leibhaftig wahrgenommen haben. Dabei spielt es keine Rolle, dass es eine erfundene Wirklichkeit ist. Auch erfundene Wirklichkeit ist wirklich, so wie ein Gemälde mit Landschaft wirklich ist.


Negative Wirklichkeit beschreibt die Ereignisse, die nicht passiert sind. Da aber auch das, was nicht passiert, zukünftiges Geschehen und Handeln beeinflusst, sollte man die negative Wirklichkeit unbedingt in die Modellbetrachtung mit einbeziehen. Ob eine Figur auftritt oder nicht, sie beeinflusst natürlich das weitere Geschehen.

Solange aber die Zuschauer*innen ohne Bewusstsein darüber bleiben, kann es ihre Sicht auf die Situation auch nicht erweitern helfen. Wir sehen nicht automatisch mit, was wir nicht sehen. Im Gegenteil, wir wissen nicht einmal, dass wir nicht sehen können, was wir nicht sehen. Die negative Wirklichkeit befindet sich quasi im "toten Winkel" unserer Wahrnehmungsverarbeitung.  Man könnte auch sagen, dass unser Gehirn bei der Verarbeitung von Signalen nur solche Signale verarbeitet, die im Ereignishorizont der Wirklichkeit liegen. „Negative Ereignisse" in diesem Horizont befinden sich im "blinden Fleck" unseres Gehirns. Da es aber auch Wirklichkeit erfinden kann, sollte es auch Negationen denken können und das kann es auch. Denn sobald wir eine Situation erfassen und einschätzen wollen, fällt uns relativ schnell auf, wenn etwas nicht stimmt, etwas fehlt, oder etwas zu früh oder zu spät eingetroffen oder gar nicht eingetroffen ist. Diese Überlegungen sind abhängig von einer Idealvorstellung oder Erwartungshaltung, die mit dem Ist- Zustand verglichen wird. So können wir Differenzen feststellen und darauf reagieren.

Im Theater hingegen betrachten wir alles, was passiert, als vollständig, sonst hätten sie es ja anders gemacht. Es ist schwer zu denken: Da hätte eigentlich eine Lampe hängen müssen und in dieser oder jener Szene fehlte der Chor, wenn es dafür keine Notwendigkeit und kein Vergleichssystem gibt.




Normalerweise schließen sich die Modelle und vernichten, was nicht wahrnehmbar geworden ist. Es geht aber darum auch negative Wirklichkeit sichtbar zu machen.


Ein wichtiger Teil dieser Arbeit und der Forschung ist es, Wege zu finden, wie die Zuschauer*innen auf den eigenen "blinden Fleck" schauen können, um ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erweitern. Da das Theatermodell grundsätzlich auch eine Wahrnehmungsschule ist und ein Trainingsplatz für unsere Sinne und unser Denken sein könnte, ist es unumgänglich, sich auch mit dem auseinanderzusetzen, was wir nicht sehen oder denken können, um eine vollständigere Wahrnehmung von Situationen als Grundlage unserer Interpretationen zu erlangen.