Ein kybernetisches Theatermodell ersetzt nicht das Theater, welches wir kennen. Es wird parallel existieren und eigene Wege gehen.
Ein kybernetisches Theatermodell beglaubigt durch den Text nicht, was man sieht. Es versucht durch den Text stattdessen, in einem Projektionsfeld des Gedankenraumes des Zuschauers Kontexte in der Vorstellung zu erschaffen, die geeignet sind, den Zuschauer anzuregen, eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was er hört und dem, was er sieht oder glaubt zu sehen.
Das kybernetische Theatermodell geht von einem Wechselverhältnis von Bühne und Zuschauerraum aus. Beide Seiten senden und empfangen gleichzeitig. Dadurch hat das Theater keine eindeutige Botschaft mehr zu vermitteln. (Zirkulation und Rückkopplung)
„Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“ Das hermeneutische Prinzip lässt zu, dass das Theater ein Auslöser verschiedener Interpretationsmöglichkeiten des Zuschauers wird. Dadurch wird der Zuschauer auch zum Co-Autor des Stückes, welches in seinem Kopf durch Betrachten und Interpretieren entsteht.
Der Beobachter verändert den Gegenstand seiner Beobachtung durch die Beobachtung und ist somit auch verantwortlich für das, was er sieht.
Die Interpretation ist ein Reflex auf alles, was wir sehen und hören. Eine vollständige Interpretation ist allerdings unmöglich, da nicht alle Teile im wahrnehmbaren Bereich auch wahrgenommen werden und wir Interpretation und Fehlinterpretation nicht voneinander unterscheiden können. Auf diese Weise entsteht erfundene Wirklichkeit.
Kleiner Ausflug: Das kybernetische Theatermodell macht einen Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit.
Er besteht darin, dass wir das Wirklichkeit nennen, was passiert, was wir sehen, anfassen oder schmecken und riechen können. Also alles, was uns unsere Sinne durch unsere Nervenzellen ermöglichen, als wahr anzunehmen. All das lässt sich zeigen oder zumindest glaubhaft annehmen. Zum Beispiel durch Textbehauptungen.
Einbezogen in diesen Begriff werden Dinge, von denen wir glauben, dass sie wahr sind, ohne es selbst überprüft zu haben. Zum Beispiel die Menschheitsgeschichte.
Realität beschreibt dagegen auch alle Möglichkeiten, die wahr werden können, ohne dass sie je passieren. Dabei handelt es sich um Eigenschaften der objektiven Welt. Die Eigenschaft der Wasserlöslichkeit eines Stückes Würfelzucker ist wahr, auch wenn der Zucker nie mit Wasser in Berührung kommt und wir es also auch nicht beobachten könnten. Auf der Bühne beschäftigen wir uns also weniger mit der Reaität der Welt, als mit unserer Annahme davon, die wiederum durch unsere Wirklichkeitswahrnehmung gesteuert wird.
Das kybernetische Theatermodell unternimmt diese Unterscheidung, um in der Wirklichkeit über das Unsichtbare zu forschen. Dadurch wird für das Theater auch all das interessant, was nicht zu sehen ist oder ausfiel oder nicht nach unseren Erwartungen zu stande kam. Wir können das getrost die „Negative Wirklichkeit“ nennen. Wie sehr die Negative Wirklichkeit Einfluss nimmt auf unser Leben oder das Geschehen auf der Bühne, erkennen wir daran, dass es etwas ausmacht, ob ein Brief ankommt oder nicht, ob eine Figur auftritt oder nicht. Und ob ein Antrag erfolgreich ist oder nicht. Obwohl diese Negative Wirklichkeit in jedem Theaterstück anwesend ist, können wir sie künstlerisch nutzen, wenn sie uns erst einmal bewusst geworden ist. Das betrifft beide Seiten im Kommunikationsmodell THEATER.
Kalkulierter Zufall
Wenn die Möglichkeit der Entscheidung zwischen dem einen oder dem anderen besteht, haben wir es mit einer nichttrivialen Maschine oder besser mit einem unvorhersehbaren Ereignis zu tun.
Der Mensch, der immer mehrere Möglichkeiten hat, auf eine immer gleiche Frage oder ein Ereignis zu reagieren, agiert wie eine nichttriviale Maschine und ist daher komplexer in seinem Verhalten als eine triviale Maschine, bei der bei einem immer gleichen Input auch der Output immer gleich ist.
Wenn man einen Zufallsgenerator einsetzen würde, der zwischen unterschiedlichen Outputs die Wahl hätte, obwohl das Input-Signal gleich bleibt, hätten wir schon mal eine Menschenähnlichkeit erreicht, was die Entscheidbarkeit von Fragen, Problemen oder Verhalten angeht.
Allan Turing hatte das mit der sogenannten „Turing Maschine“ bereits 1937 erreicht.
Sie arbeitet vergangenheitsbezogen und errechnet die Möglichkeit zu reagieren immer wieder neu aus den vorhergehenden „Erfahrungen“, während eine Kaffeemaschine immer Kaffee kocht, egal wann oder wie oft man sie startet.
Nun, Schauspieler*innen haben eigentlich immer mehrere Möglichkeiten, auf eine Situation zu reagieren, oder sagen wir, mit ihren Figuren, die selbst über Prägungen verfügen, eigene Entscheidungen zu treffen. Und obwohl das Theater versucht, glaubhaftes Leben mit Hilfe von Schauspieler*innen zu gestalten, arbeiten sie doch wie triviale Maschinen, da der Frage aus dem Textbuch bei jeder Vorstellung die entsprechende Antwort aus dem Textbuch folgt. Selbst das Nachdenken im Moment der Entscheidung wird simuliert und ist vollkommen überflüssig.
Ich will damit sagen, dass wir mit Hilfe der sehr simplen Funktionsweise einer Kaffeemaschine versuchen, komplexe Verhaltensweisen von Menschen zu simulieren, obwohl die Schauspieler*innen selbst keine Kaffeemaschinen sind . Paradox, oder?
Ihre Kunst besteht im Prinzip darin, so trivial wie möglich zu arbeiten und dabei so nichttrivial wie möglich zu erscheinen.
Stücke zu kreieren, in denen die Schauspieler*innen selbst in Entscheidungssituationen geraten, bevor sie mit Hilfe ihrer Figuren in den Situationen reagieren und dadurch eine fortwährende Wachheit und Konzentration auf das Geschehen um sie herum entwickeln müssen, wäre eine vorstellbare Korrektur der Trivialisierung ihrer Arbeit auf der Bühne.
Wenn man das digital darstellen würde, gäbe es also mindestens immer die beiden Grundzustände des Binärsystems: "An" und "Aus" oder "0" und "1".
Ausserhalb von Werktreue und musealen Aufführungen, wäre sogar ein Trinärsystem wünschenswert, welches also mindestens drei verschiedene Zustände kennt:
1) Figur sagt ihren vorgeschriebenen Text.
2) Figur sagt den Text nicht und
3) Figur sagt einen anderen Text.
Im Prinzip kann das durch Signale von aussen genauso entstehen wie durch Signale aus der Situation heraus. Wünschenswertes Ergebnis dieser kleinen Veränderung der Arbeitsweise wäre eine sehr lebendige, in allen Momenten spannungsgeladene, neu entstehende Situation, was den weiteren Verlauf der Szene angeht. Wenn man noch dazu die Erfahrungen aus der letzten Vorstellung mitnimmt und sich selbst korrigieren kann in den einmal getroffenen Entscheidungen, haben wir es sogar mit einer lernenden Intelligenz zu tun.
Es gibt viele Möglichkeiten, einmal automatisierte triviale Vorgänge aufzulösen und neu zu laden, man müsste sich nur von der Vorstellung verabschieden, dass die exakten Wiederholungen des immer gleichen Ablaufs das Nonplusultra der Menschendarstellung auf der Bühne bedeuten.
Ein Gesichtspunkt, welcher gleichzeitig den Unterschied zum Film beschreibt und damit auch keine Konkurrenzstreitigkeit befürchten müsste.
Vollständige Präsentation des kybernetischen Theatermodells
1. Das, was passiert, und das, was nicht passiert.
2. Das, was gesagt wird, und das, was nicht gesagt wird.
3. Das, was gezeigt wird, und das, was nicht gezeigt wird.
4. Das, was wir verstehen, und das, was wir nicht verstehen.
5. Das, was wir wissen oder zu wissen glauben, und das, was wir nicht wissen oder noch nicht wissen.
6. Das "Unwissbare".
7. Das, was trivial erzeugt wird (rekonstruiert), und das , was nichttrivial erzeugt wird (unvorhersehbar).
Es geht im Prinzip darum, das "Sichtbare" und das "Unsichtbare" im Bewusstsein des Zuschauers miteinander zu verbinden und beides greifbar zu gestalten.
Selbstreferenz und Verantwortung
Wer sich zum Teil der Welt erklärt, welche er beobachtet, wird plötzlich feststellen, dass es sein eigenes Hirn ist, welches Hirnforschung betreibt.
Zu dieser Einsicht werden früher oder später die Bühnen-Künstler*innen, wie auch die Zuschauer*innen kommen.
Durch das Schlüsselloch die Welt betrachtend kannst du sagen: "Ihr müsst, ihr sollt..."u.s.w.
Wenn ich aber Teil der Welt bin, muss ich mein Tun auch verantworten und kann nicht mehr moralisieren. Die Einsichten sind Aufforderungen an mich selbst.
Ich übernehme Verantwortung für das, was ich sehe. Es geht also gar nicht um die Anhäufung von Informationen oder Wissen im Theater, sondern um die Art und Weise der Erlangung. Damit ist dem ideologisierenden "AussagenTheater" der Zahn gezogen. Kunst, die auf Meinungsbildung abzielt, ist schlicht Propaganda.
Man sollte das Interesse aufgeben, das Denken der Zuschauer*innen zu kontrollieren, und stattdessen ein Denken auslösen. Propaganda versetzt den Zuschauer nicht in den Zustand des eigenen Denkens. Vergessen wir nicht, die Zuschauer*innen sollen sich nicht permanent den Kopf darüber zerbrechen, was die Künstler*innen ihnen sagen wollen, sondern einen eigenen Entwurf des Stückes wagen, welches sie betrachten. Dazu braucht es eine verständliche Einladung und eine interessante Anregung.
Rekursion
Eine Rekursion beschreibt in der Mathematik eine Funktion, die sich immer wieder selbst aufruft, um den nächsten Schritt zu berechnen. (Fibonacci- Zahlen)
Die mathematische Beschreibung eines Lernvorgangs, dessen Erkenntnisse vergangenheitsbezogen sind und dadurch nicht abgekoppelt von der Erfahrung existieren. Sie bauen aufeinander auf. Auf diese Weise könnte man auch das Theater als Trainingsplatz für den Gebrauch der Sinne beschreiben. So wie Entwicklung und Erfahrung des Bühnenkünstlers von Aufführung zu Aufführung wachsen, so muss man für die Zuschauerbefähigung nun auch jeden bisherigen Theaterbesuch als eine Vorbereitung auf den nächsten verstehen und sollte nicht mehr jede Aufführung isoliert betrachten. Ähnliches gilt für die Betrachtung des einzelnen Kunstwerkes eines Künstlers im Unterschied zur Betrachtung seines Gesamtwerkes.
Die Raumprojektion
Der Zuschauer sollte in seiner Vorstellungskraft trainiert werden und nicht in der Befähigung, Wirklichkeit durch Immersionseffekte verdrängen zu können. Illusion und Vorstellung sind genauso verschieden wie Bild und Idee.
Das bedeutet, dass die Bilder eine neue Funktion bekommen können, wenn sie nicht mehr der Illusion dienen. Die Grenzen unserer Vorstellungskraft sind bei weitem nicht so eng wie die Manifestierung von virtuellen oder gebauten Bühnenbildern. Der Zuschauer wird immer versuchen, das Gehörte mit dem Gesehenen zu überlagern und in Verbindung zu setzen. Sein Gehirn sucht nach der Synchronisierung seiner Wahrnehmungen. Wenn der Raum aber einen Kontext zum Inhalt erschafft, der wie eine Störung beim Vorgang des Synchronisierens funktioniert, erweitern sich auch durch die kreative Arbeit des Gehirns auch die Möglichkeiten der Erzählung. Dadurch bekommen Raumvorstellungen jenseits der Beglaubigung des Textes auch wieder einen Sinn. Eben einen neuen.
(Beispiel Volksfeind 2018 im Staatstheater Cottbus)
Modellsimulationen
Wer wäre wohl besser geeignet als der Mensch, um einen Menschen nachzuahmen. Das ist es, was die Schauspieler*innen tun. Sie arbeiten an der Glaubhaftigkeit ihrer Figuren, studieren die Menschen in Gestus, Ausdruck und Haltung, bis ihre Figuren dem Menschen, welche sie verkörpern sollen, zum Verwechseln ähneln. Dafür gibt es oft Applaus vom Publikum.
In der Simulation ist die Illusion dann perfekt gelungen, wenn der Zuschauer glaubt, es handele sich beim Hamlet um eine Menschendarstellung, weil er ja so aussieht wie ein Mensch und spricht wie ein Mensch und sich darüber hinaus auch so benimmt. Die Verwechslung ist so verblüffend, dass er völlig vergisst, dass es sich um ein Modell von menschlichem Verhalten handelt.
In einem Hamlettrickfilm durchschauen wir etwas leichter, dass es sich wohl nur um ein Hamletmodell handelt. Deshalb darf er auch wie ein Strichmännchen aussehen. Aber wenigstens seine Stimme sollte noch menschlich sein und, wenn möglich, auch sein Verhalten.
Dass es sich immer um ein Modell handelt, ob Mensch oder Strichmännchen, wird gefällig übersehen. Dass ein Modell aber in jedem Fall mit einer sprechenden Maschine, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet ist, dargestellt werden kann, ist gar nicht im Bewusstsein des Beobachters angelegt. Warum? Wenn Maschinen einen Menschen nachahmen in Sprache und Verhalten, fehlt es oft noch an Glaubwürdigkeit. Aber liegt es wirklich an der fehlenden Glaubwürdigkeit der Darstellung, die uns den Genuss schmälert? Wie verhält es sich mit ET?
Konnte nicht auch ein künstliches Wesen wie ET, von dem wir nun mit Bestimmtheit annehmen durften, dass es dieses Wesen gar nicht gibt in unserer Welt, nicht auch Emotionen hervorrufen beim Zuschauer? Wenn aber unser Abstraktionsvermögen so weit entwickelt ist, dass wir uns von sprechenden Fröschen, Bäumen, oder Plastiktüten unterhalten lassen, wozu dann noch an der Glaubhaftigkeit in der Darstellung des Menschen durch den Menschen arbeiten?
Fehlervermeidung durch Angstbefreiung
Das Tanztheater lebt von vorgefertigten Bewegungsabläufen, das Schauspiel von vorgefertigten Texten und Situationen. In den Proben wird im Prinzip der Automatisierungsprozess angestrebt.
Ein Blackout im Sinne des Verlustes an Rekonstruktion des Vorgefertigten erscheint als Fehler im System und schon die Vorstellung davon macht Angst. Wir nennen das „Ausstieg“. Der Ablauf wird unterbrochen, das Programm stürzt ab. Oft benötigt es tatsächlich die Zeit für einen Neustart, wenn man sich denn aus der Panikattacke, die während einer Vorstellung unter Beobachtung des Publikums entsteht, befreien konnte.
Ich habe Schauspieler erlebt, die aus Angst, ihren Text zu vergessen, den Text vergaßen oder sich ständig verhaspelten, oder ältere Schauspieler, deren Gedächtnis sie immer häufiger im Stich ließ. Die Qualen, die ein Schauspieler oder eine Schauspielerin in solchen Momenten erlebt, sind unbeschreiblich. Oft wird eine solche Panne irgendwie überspielt oder Kollegen auf der Bühne helfen aus, aber im Grunde bleibt die Angst bestehen.
Es ist also gar nicht verwunderlich, wenn ich über angstbefreite Bühnenkunst nachdenke und dafür in beiden Sparten bereits Lösungen gefunden habe, die das Geschehen nicht nur lebendiger und authentischer machen, sondern auch angstbefreiend wirken, so dass wir ganz andere, nämlich von den Zwängen der Abläufe befreite Persönlichkeiten, auf der Bühne erleben durften.
Bis zu dieser Freiheit auf der Bühne ist es aber ein langer Weg. Die Probe dient nicht mehr dazu, die Abläufe zu trainieren, sondern die Reaktionsmöglichkeiten der Figuren auf jede Situation und jeden Input. Eben so, als wenn es nach jeder Sequenz auf der Bühne ein Loch gäbe, in dem man sich mit dem Zuschauer gemeinsam die Frage stellt, wie es wohl weitergehen könnte. Die vorgefertigten Abläufe führen zumeist dazu, dass der Zuschauer gar nicht mehr den Raum bekommt, selbst Überlegungen anzustellen oder über einen weiteren Verlauf nachzudenken. Er wird gezwungen zu konsumieren statt zu produzieren und das kommt daher, dass bei ausreichender Automatisierung der Abläufe das Denken auf der Bühne ausgeschaltet bleiben kann, was im Prinzip auch das Ausbleiben des Denkens im Zuschauerraum erklärt.
Retardierende Momente
Die Beziehung der Schauspieler/in zur Figur ist im Grunde genommen die Verwandlung eines komplex denkenden Wesens in eine triviale Maschine, die vorgefertigte Haltungen als Reaktion auf vorgeschriebene Anlässe reproduziert (und das über viele Vorstellungen hinweg in der gleichen Art und Weise). Die Mechaniken und Automatismen, die dabei entstehen, entlasten den Denkapparat der Darsteller*innen so lange, bis er/sie durch Wiederholungen des immer selben Vorgangs, gar nicht mehr denkt. Dem Impuls, also dem INPUT auf der Szene, folgt direkt der konstruierte OUTPUT und umgeht dabei die Blackbox, so dass es keine Beeinflussungen der Reaktion mehr geben kann. Die Darsteller*innen haben sich selbst auf den Proben zu trivialen Maschinen austrainiert, die in immer derselben Weise auf Stichwort, Handlung oder verabredete Zeichen reagieren.
Wenn die Schauspieler*innen ihre Impulse auf der Szene in Ideen umwandeln könnte, so dass viele Möglichkeiten zu reagieren erhalten bleiben und nicht vernichtet werden, hätte man durch diesen "Verzögerer" eben eine Phase, der Blackbox gleich, in welcher nun Umwandlungen stattfinden könnten, so dass es auch wieder unvorhersehbare Reaktionen der Figur auf das Geschehen gäbe.
Erst durch diese Komplexheit der Möglichkeiten wäre überhaupt erst wieder eine Darstellung möglich, die aus der „Marionette“ eine menschliche Figur macht und dem Zuschauer durch die Verzögerung wieder die Möglichkeit gibt, selbst am Entstehungsprozess von Ergebnissen des Handelns auf der Bühne teilzuhaben.
Um dem Menschen auch in seiner Darstellung gerecht zu werden, könnte man die Impulse der Darsteller*innen in Ideen umwandeln.
Die Vermenschlichung von Technologie bedeutet ja auch nichts anderes als die Entwicklung zur Komplexität und zur unvorhersehbaren Reaktionsmöglichkeit einer Maschine auf Ereignisse der Umwelt auf der Basis von Vergangenheitserfahrung.
Zirkulation als Kommunikationsmodell
Die wechselseitige Beziehung von Bühne und Publikum verändert das dialogische Kommunikationsmodell von Bühne und Saal und ist dadurch für uns von besonderem Interesse. Das bedeutet, dass es nicht mehr einen Sender (Bühne) und einen Empfänger (Publikum) gibt, sondern beide Seiten sowohl Sender als auch Empfänger von Informationen und Signalen sind. Auf diese Weise hat das Publikum Zugriff auf die Aufführung und verändert das Gesehene durch seine Beobachtung.
Das bedeutet aber auch, dass es Verantwortung für das Gesehene übernehmen müßte. Es kann sich also nicht mehr gänzlich auf die Konsumentenposition zurückziehen. Da aber Interpretation und Verständnis ebenfalls subjektiv sind und von der Bühne aus, durch das "hermeneutische Prinzip" nicht mehr zu kontrollieren sind, sollten auch die Künstler den vorproduzierten Zustand der Bedeutungsideologie ablegen und frei von Aussagen und Botschaften ihre Kunst ausüben. Der Denkraum für Beobachter entsteht gerade durch die Weglassung der vorgefertigten Bedeutung so wie in einer Bilderausstellung.
Veränderte Rollen im Theater
Darsteller*innen, die hier zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung in ihren Arbeitsweisen als mechanisch und entmenschlicht erkannt wurden, brauchen um ihre künstlerische Existenz aber nicht zu fürchten, denn zu ihren Lebzeiten wird sich an ihrem herkömmlichen Berufsbild ja noch gar nichts ändern. Im kybernetischen Modellversuch hingegen sind sie bereits emanzipiert und selbstbestimmt. Sie entwickeln eigene Vorstellungen und Konzepte für ihre Arbeit, so wie es übrigens auch in allen anderen Gewerken der Fall sein würde. Die aufeinanderbezogenen Funktionsteile dieses Systems entscheiden selbstständig, regulieren sich selbst und sind mitverantwortlich für das künstlerische Ergebnis.
Auch das geschätzte Publikum könnte Angst davor bekommen, plötzlich selbst verantwortlich zu sein für das, was es auf der Bühne zu sehen bekommt aber auch diesen Zuschauer*innen kann ich versichern, dass sich ihre Konsumentenrolle ja erst dann ändern würde, wenn sie selbst bereit wären, sie freiwillig aufzugeben.
Vorerst wird es nur darum gehen, ihre Kompetenz als Betrachter zu entwickeln und ihnen die besondere Rolle der Verursachung all dessen was sie betrachten nahe zu bringen. Auch sie werden dadurch beteiligt sein am Entstehen des Kunstwerkes und werden im Verlaufe ihrer Besuche im Theater zu Produzenten ihrer Möglichkeiten.
Die vertikale Hierarchie des Theaterbetriebs kann sich in diesem Modell der emanzipierten und selbstorganisierenden Teile verflachen und horizontal einpendeln.
Die Macht des Einzelnen wird nicht mehr über die Macht aller gestellt. Sie wird stattdessen herumgereicht, entsprechend der Kompetenz des Einzelnen und der dabei angestrebten Problemlösung. Im besten Falle arbeitet eine Theaterleitung an der Kompetenzentwicklung aller Systemteile und umgekehrt.
(in Arbeit)