Code of Theater
Labor für plastisches Denken

                                     12 Selbstorganisation


Selbstorganisation beschreibt die Prozesse und Interaktionen, in denen ein soziales System seine Strukturen und Vorgehensweisen selbst produziert und aufrechterhält. Sie beschreibt, wie ein System (ohne Fremdeinwirkung) aus weniger geordneten Zuständen Strukturen (beobachtbare Ordnung) aufbaut und aufrechterhält. Durch das Wegfallen vertikaler Hierarchien entstehen Redundanzen, die eine Art Luxus darstellen und Fehlervermeidungen werden ohne den Stress durch Fremdeinwirkung und Erwartung angstbefreiter gelöst. 


Selbstorganisation könnte man auch als eine Struktur beschreiben, die zu einem bestimmten Zweck erschaffen wurde, aber irgendwann anfängt, ein Eigenleben zu entwickeln. Wenn sie dazu in der Lage ist, über den eigentlichen Zweck hinaus Funktionen auszubilden und an sich selbst Veränderungen vorzunehmen, dann hat sie sich schließlich aus der Anweisungs- und Ausführungsroutine befreit und damit, um nun in die uns interessierende menschliche Kategorie zu wechseln, auch von all den Ängsten, die durch Erwartungsstress entstehen.


Für die Schauspieler*innen auf der Bühne würde dies bedeuten, dass sie die Angst verloren haben, etwas falsch zu machen, ihren Text zu vergessen, zu früh oder zu spät aufzutreten und ihre Stichwörter für die Kolleg*innen nicht rechtzeitig zu geben. Es würde kein richtig oder falsch mehr geben. Es gibt nur noch Entscheidungen, die sie fortwährend und immer wieder neu zu treffen haben, um eigenständig mit ihren Figuren auf Situationen zu reagieren. Wenn ihnen der Text dabei hilft, diese Situationen zu meistern, so können sie ihn benutzen, um Probleme zu lösen, wenn nicht, müssen sie andere Wege finden, wach, lebendig und anwesend zu bleiben. Alle Darsteller*innen, solange sie auf der Bühne sind, kämpfen im Grunde gegen die Möglichkeit ihrer Überflüssigkeit oder Abwesenheit in der Szene an, statt sie als eine Option ihrer Entscheidungsmöglichkeiten anzusehen. Natürlich spielt da auch Eitelkeit eine Rolle, aber vor allem die vorgeschriebene Textmenge, die abgearbeitet sein will, und das Wissen um die festgelegten und einstudierten Beziehungssimulationen.

Eine Szene scheint erst fertig zu sein, wenn alles gezeigt wurde, was vorher als zur Szene gehörend festgelegt wurde, damit die eigentliche und auch vorher festgelegte Aussage in Form seiner Bedeutung präsentiert werden kann. Genauso würde auch eine Maschine arbeiten. Wenn wir noch stolpern bei der Frage danach, ob Maschinen jemals denken können werden oder ein Eigenleben entwickeln könnten, sei dies gestattet, aber sich ernsthaft zu fragen, ob Figuren denken können sollten oder nicht, ist absurd, denn sie sind ja Simulationen menschlichen Verhaltens. Selbstorganisation würde hier bedeuten, dass Theaterstücke aus dem NICHTS entstehen und erst, wenn ein Grund anwesend ist, auch Bewegung daraus folgt. Durch die Entscheidungsfreiheit der Figuren entstehen mitunter neue Situationen und jeder Abend könnte unvorhersehbar verlaufen.


Es kann natürlich nur so lange andauern, wie es lebendig, also mit Eigenleben versehen ist.


Mechanisierte Vorproduktion verhindert das willentlich und so kann man das daraus folgende Theaterstück auch als entmenschlicht, nämlich trivial, vorhersehbar und

voll von Ängsten beschreiben. Wäre es nicht aussichtsreicher für unsere Ansprüche, ein angstbefreites und entideologisiertes Theater anzustreben?