Die Entdeckung des Beobachters in der Wissenschaft hat eine große intellektuelle Faszination ausgelöst. Diese Faszination besteht darin, dass Blindheit und Einsicht aller kognitiven Prozesse des Menschen nur eine Seite der Medaille darstellen, deren andere Seite wir nicht kennen.
Wir wechseln quasi zwischen Blindheit und Einsicht hin und her, während wir Systeme, Sachverhalte oder Umwelt beobachten. Für gewöhnlich befinden wir uns dabei ausserhalb des zu beobachtenden Systems. Das ist für die meisten Beobachtungen völlig ausreichend.
Erst durch die Beobachtungen 2. Ordnung (ein Begriff aus der Kybernetik) , nämlich der Beobachtungen von Beobachtungen, wird ersichtlich, wie subjektiv Beobachtungen 1. Ordnung sind, da der Beobachter nicht sehen kann, was er nicht sieht. Das Problem liegt aber noch tiefer, da, wie Heinz von Foerster bündig formuliert, „Wir sehen nicht nur nicht, was wir nicht sehen; wir wissen auch nicht, dass wir nicht sehen, was wir nicht sehen.“
Ich habe dazu bereits ein Beispiel geliefert, welches dieses Phänomen deutlich macht. ("Standard Universe" 2011)
Stellen wir uns vor, wir betreten einen dunklen Raum, schalten das Licht an und entdecken kleine grüne, herumzappelnde, sehr lustige Teilchen. Um diese Entdeckung zu dokumentieren schiessen wir kurzerhand ein paar Fotos und geben sie an die Medien weiter. Nun handelt es sich aber um Teilchen, welche die Farbe, Form und Geschwindigkeit ändern können, sobald sie in Stress geraten. Was wir also fotografieren und interpretieren, befindet sich nur in dem beobachtbaren Zustand, weil wir den Raum betreten, das Licht angeschaltet haben und es beobachten. In ihrer natürlichen Umgebung handelt es sich um blaue, in Ruhe durch den dunklen Raum schwebende Teilchen, die unseren Blicken verborgen geblieben sind. Daraus folgt, dass Dinge, die wir erforschen wollen, grundsätzlich im Dunkeln liegen und durch die Messung selbst das Ergebnis beeinflußt wird. Man könnte auch sagen, die Grundlage unserer Theorien über beobachtbare Systeme sind Stresszustände jener Systeme und Sachverhalte.
Das Wort Theorie stammt übrigens aus dem Griechischen. (theoria: die Anschauung, Einsicht, Betrachtung) Der Zuschauer im Theater ist also ein Theoretiker. Durch seine Anwesenheit wird das Theaterstück betrachtet, gemessen und beurteilt. Aber auch die Zuschauer sehen es nicht in dem Zustand, indem es sich befände, wenn der Saal leer wäre. Die Stresssituation für Darsteller*innen auf der Bühne innerhalb des Systems, welches beobachtet wird, ändert sich ebenfalls mit dem Öffnen des Vorhangs.
Die Einflussnahme des Betrachters auf das Kunstwerk ist enorm. Das setzt natürlich voraus, dass Darsteller*innen ein Bewusstsein von der Anwesenheit des Zuschauers haben, genauso wie ein Teilchen auf Licht reagieren wird. Das biologische System der Darsteller*innen auf der Bühne wird in Stress versetzt. Was die Zuschauer*innen jetzt zu sehen bekommen, entstand durch ihre Beobachtung. Ich habe oft genug selbst erlebt, dass sich das Problem, warum ich in eine Probe gerufen wurde, gar nicht zeigt, weil eben der Schauspieldirektor anwesend ist und eine ganz neue Stresssituation entsteht.
Die zirkuläre Wechselwirkung von Bühne und Zuschauerraum ist damit hinreichend erklärt.
Was bedeutet das aber für das Theater? Es bedeutet, dass das Sender/Empfängerverhältnis nicht mehr eine Einbahnstrasse sein kann. Es zirkuliert. Auch die Beobachter*innen werden zu einem Sender, durch bloße Anwesenheit. Sogar ihre Anzahl im Zuschauerraum, wird Einfluss nehmen auf den heutigen Abend. Dagegen werden die Bühnenkünstler*innen auch zu Empfängern von Signalen aus dem Zuschauerraum. Wir erfahren das durch die zunehmende Interaktivität der Zuschauer*innen in der Kommunikation mit der Bühne. Ein Umstand, der schon immer existierte und auch seine Wirkung tat, aber nicht in unser Bewusstsein drang. Das Publikum weiß meiner Ansicht nach bis heute nicht, welchen Einfluß es besitzt und auf welche wundersame Weise es einen grossen Anteil am Gelingen des Abends hat. Jeder Zuschauer und jede Zuschauerin schreibt das Stück aus seiner/ihrer subjektiven Beobachterposition sogar neu. Keine Assoziation, keine Interpretation und auch kein Verständnis oder Unverständnis ist dem des Nachbarn im Theatersaal gleich. Was man sich denkend erschließt, zu welcher Einsicht man kommt und welche Denkräume man überhaupt beansprucht, all das nimmt Einfluss auf den ganz persönlichen Verarbeitungsprozess von Informationen.
Natürlich muss die beobachtende Person in diesem Fall auch die Verantwortung dafür übernehmen, was sie gesehen hat. Aber da das Theater immer noch Geld kostet und sie daher glaubt, die Aufgabe, sie in Bewegung zu versetzen für ihr Geld, wäre ganz auf der Seite der Bühne, wird sie in ihrer Konsumentenrolle verharren. Um Produzent der Stücke zu werden, die man sieht, muss man sich erst seiner bewußt werden.
Wenn man erst einmal verstanden hat, dass die Bedeutung dessen, was man auf der Bühne zu hören bekommt, nicht bei den Sprecher*innen entsteht, sondern bei den Zuhörer*innen, wird man auch dem Gedanken der Autorenschaft des Betrachters mühelos folgen können. Und da wir uns immer noch in einem Modell der von uns konstruierten Wirklichkeit befinden, haben wir auch Einfluss auf diese Wirklichkeit und können sie unseren Bedürfnissen anpassen und das lediglich dadurch, dass wir die Verhältnisse ändern. In unserem Fall die Verhältnisse bei der Betrachtung des Kommunikationssystems Theater und die Entwicklung der beiden zirkulären Dialogpartner - Bühne und Zuschauerraum. Die Folgen für die Kunst habe ich ja schon an vielen anderen Stellen beschrieben, praktiziert und natürlich auch beschworen.
Was könnten wir noch über die Zuschauer eines Theaterstückes sagen?
Können sie das Sehen erlernen?
(aus der Anekdotensammlung Heinz von Foersters während eines Vortrags)
Carlos Castanedas wandte sich an Don Juan, den Schamanen und bat ihn, ihn das Sehen zu lehren.
Noch im Dunkeln brachen die beiden auf und wanderten durch den endlosen Chapparal.
Plötzlich Don Juan: "Schau, hast du das gesehen?"
Carlos: "Nein, was denn?"
Ohne eine Antwort zu bekommen liefen beide weiter, bis die Sonne auf sie herunterbrannte.
Und Don Juan wieder: "Schau, hast du das gesehen?"
Carlos wieder: "Nein, was denn?"
So ging das noch ein paar Mal bis in den Abend hinein.
Da blieb Don Juan stehen: "Ich weiß jetzt,. warum du all das nicht siehst. Du siehst nur, was du erklären kannst."
Einer der entscheidenden Aspekte, die von Foerster zeit seines Lebens umtreiben, ist die Entdeckung des zentralen Themas der Zirkularität, der Selbstreferenz oder Selbstrückbezüglichkeit, welches über das simple Feedback etwa eines Temperaturreglers einer Heizung weit hinausgeht. Wenn wir nach dem Wesen des Lebens fragen, leben wir bereits oder anders gewendet, nur Lebewesen können dies. Wer Sprache untersuchen will, tut dies mit Sprache. Und wenn wir wie Wittgenstein wissen wollen, was eine Frage ist, müssen wir schon in der Lage sein, eine Frage zu stellen.
Das große Verdienst Heinz von Foersters und seiner Kybernetikerkollegen ist die Wiederhereinnahme der Beobachterposition in die Wissenschaft. Das Prinzip der Objektivität besagt hingegen, dass die Eigenschaften der Beobachter*innen nicht in die Beschreibung des Beobachteten eingehen dürfen, folgt man diesem, so Heinz von Foerster, dann „bleibt nichts mehr übrig, weder die Beobachtung noch die Beschreibung. …. Was die Kybernetiker antreibt, ist die tiefgründige Einsicht, dass es eines Gehirns bedarf, um eine Theorie über das Gehirn zu schreiben.“