Code of Theater
Labor für plastisches Denken

                                  03 Heinz von Foerster

 

Heinz von Foerster lebte von 1911 bis 2002 und war ein österreichischer Physiker, Kybernetiker und Philosoph.


Er war Professor für Biophysik und langjähriger Direktor des Biological Computer Laboratory (BCL) in Illinois. Er gilt als Mitbegründer der kybernetischen Wissenschaft und ist philosophisch dem radikalen Konstruktivismus zuzuordnen. Zu seinen bekanntesten Wortschöpfungen gehören "Kybernetik zweiter Ordnung", „Lethologie“, „Neugierologie“ und „KybernEthik“. Er prägte auch den Begriff "Ethischer Imperativ".


Kybernetik zweiter Ordnung bezeichnet eine progressive intellektuelle Bewegung in der Kybernetik, die auf Heinz von Foerster zurückgeht.

Er leitet aus der Erzeugung subjektiver Realitäten im Nervensystem eine Theorie ab, die in ihrer extremen Form als Beobachtung der Beobachtung (Beobachtung zweiter Ordnung) den Begriff einer objektiven Realität eliminiert und stattdessen den „Eigenwert“ des kognitiven Systems als Ergebnis von Rekursionsprozessen beschreibt.

„Erfahrung ist die Ursache. Die Welt ist die Folge.“
„Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“
„Das Nervensystem organisiert sich so, daß es eine stabile Realität errechnet.“
„Die Hörer, nicht die Sprecher, bestimmen die Bedeutung einer Aussage.“
„Die Landkarte ist die Landschaft.“
„Notwendigkeit entsteht aus der Möglichkeit, unfehlbar zu deduzieren. Zufall entsteht aus der Unmöglichkeit, unfehlbar zu handeln.“
„Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten wächst.“

Sätze von Heinz von Foerster, die er viele Male wiederholt hat. Es sind Provokationen, die sich gegen die althergebrachten Prinzipien gültiger Logik und gegen die Objektivierung des Erkenntnisprozesses richten.
Im Prinzip beschäftigte Heinz von Foerster ein Leben lang der Paradigmenwechsel von der Objekterforschung zur Beobachtererforschung. Er weist darauf hin, dass die Eigenschaften des Beobachters enormen Einfluss auf die Messdaten eines Objektes der Beobachtung haben.
Es ginge nicht mehr um die Erforschung der vermeintlichen Eigenschaften des Objektes, sondern vor allem um die Eigenschaften des Beobachters. Also geht es im Prinzip nicht mehr ausschließlich um die Anhäufung von Wissen, sondern um die Art und Weise, wie Wissen entsteht. Das Wissen wird als statisch betrachtet, die Aneignung als dynamisch. Das bedeutet, dass wir uns selbst in den Mittelpunkt der Erforschung von Welt stellen, ahnend, dass sie uns nur so erscheint, weil wir sie so sehen. Wenn aber die Welt so ist, wie sie ist, weil wir sie betrachten, haben wir auch eine Verantwortung, weil sie aus der Betrachtung und Messung Veränderung und Manipulation der Wirklichkeit entspringt. Alles was wir tun, basiert auf dem vermeintlichen Wissen um die Dinge - wie sie beschaffen sind, wie sie auf Einfluss von außen reagieren werden und wie uns das einen Nutzen bringt. Wenn sich die Prognose als wahr erweist, finden wir darin eine Bestätigung unseres Verständnisses der Welt und der Dinge, die uns umgeben. Natürlich unterschlagen wir dabei gern, das ein funktionierendes Geschäft nicht unbedingt auf dem tiefen Verständnis des Universums basiert. Eine Maschine, die zehnmal schneller die Tropenwälder abholzt, als der Mensch es könnte, funktioniert möglicherweise sehr gut und wirft auch Gewinn ab. Aber diese Maschine ist nur sinnvoll, wenn man sich in dem eingeschränkten Gesichtskreis des Systems bewegt, welches unendlich viel Tropenholz zur Verfügung hat. Aus einem übergeordneten System erkennt man leicht, dass wir die Welt, die wir von innen heraus betrachten, überhaupt nicht verstanden haben. Aber wer ist schon in der Lage, Zusammenhänge zu erkennen, die er nicht sehen kann. „Wenn sie ihre Terrasse mit Tropenholz bauen wollen, leisten Sie ihren Beitrag am Untergang der gesamten Menschheit und ihrem Überlebensdomizil.“ Foerster nennt das den „blinden Fleck“.
„Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen.“
Sokrates war der erste überlieferte Beobachter, der das auszudrücken vermochte und davon wusste:
„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Aber die meisten Menschen wissen nicht einmal das.
Er wusste natürlich auch nicht, dass dies die Grundsteinlegung einer Wissenschaft werden sollte, die sich die Wissenschaft vom Unwissbaren nennen könnte.  
Der Ausschluss des Paradoxons aus der Logik und der Ausschluss des Beobachters und Beschreibers aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess sind allerdings Positionen, die in diesem Jahrhundert durch die wissenschaftliche Theoriebildung und Beobachtung gründlich erschüttert wurden. Das Gödelsche Unvollständigkeitstheorem und die Heisenbergsche Unschärferelation brachten die Selbstillusionen der ,,exakten" Wissenschaften Mathematik und Physik zu Fall. Die seitdem mit großem Aufwand angestellten Experimente setzen das vor 2.500 Jahren von Aristoteles ausgeschlossene ,,Dritte" wieder in sein Recht: Es gibt Dinge, die sowohl wahr als auch falsch sein können. Bei der Entscheidung über wahr oder falsch kommt es auf den Beobachter an. Der Beobachtungsprozess, aus dem Beschreibungen hervorgehen, und die Rolle des Beobachters selbst sind aber nicht nur eine Frage, die die Wissenschaft beschäftigt, sie beschäftigt uns auch im Theater, einem Ort, der ohne seine Beobachter*innen/Zuschauer*innen gar keinen Sinn ergibt.


„Wenn man den Beobachter nicht entdeckt hätte, hätte man ihn erfinden müssen.“  (H.v.F.)

In der Mechanik, die wir inzwischen sehr gut beherrschen, beobachtet und misst der Forscher die Welt, die wir alle wahrnehmen und versucht sie mit Hilfe der Mathematik zu beschreiben, um Gesetze der Natur aus diesen Beobachtungen abzuleiten, die auch für alle anderen derartigen Beobachtungen gelten sollten.
Die unglaublich erfolgreiche Wissenschaft der Beschreibung, die aus der Mechanik folgte, war die Physik, die sowohl im Makrokosmos, als auch im Mikrokosmos mit Hilfe von weiterentwickelten Messinstrumenten Beobachtungen vornahm, die nun teilweise den vorhanden Erkenntnissen widersprachen. Diese Beobachtungen konnten wir mit unseren Augen nicht mehr selbst vornehmen. Sie wurden wissenschaftliche Theorien und danach erlerntes Wissen. Sie waren aber immer noch Beobachtungen eines Dritten, der sich ausserhalb des zu beobachtenden Systems befand, um seinen objektiven Forscherstatus zu verteidigen.  Ein sehr anschauliches Beispiel ist die noch heute übliche Verzauberung durch einen schönen Sonnenuntergang. Diese Art der Beschreibung hat sich über tausende von Jahren deshalb halten können, weil wir uns innerhalb des Systems befinden, welches beobachtet wird. Es ist eben das, was wir sehen. Seit Kopernikus allerdings wissen wir, das es den Sonnenuntergang gar nicht gibt, sondern durch die Bewegung der Erde (unserem Beobachterstandort) um die Sonne entsteht.
In diesem Fall ist die sogenannte Objektivität, eine abstrakte Vorstellung, der wir zwar zu folgen bereit waren, unsere tatsächliche Sinneswahrnehmung ihr aber widerspricht. Die Kluft zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, was wir wissen wird auf diese Weise immer größer.
Möglicherweise sind wir durch wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn sie unserer Wahrnehmung widersprechen, so überfordert, dass wir lieber wieder in die zweifelhaften Wahrnehmung der Wirklichkeit durch unsere Sinne zurückkehren, da sie auch ein Ausdruck von Sicherheit und Übereinstimmung mit der Welt beinhaltet, die uns selbst wieder ins Zentrum unserer Beobachtungen stellt. Sei es wie es sei - die Wirklichkeit entspricht in den allermeisten Fällen nicht der Realität. Ein Umstand auf den ich gern hinweise, weil die Begriffe oft als Synonym füreinander im Gebrauch sind.


Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, warum sich die Wissenschaft, um sich ihrer Erkenntnisse auch sicher sein zu können, stets außerhalb des zu beobachtenden Systems stellt. Hermann von Helmholtz benennt diese Position als „locus observandi“, nämlich den Platz des Beobachters, der die Welt durch ein Schlüsselloch beobachtet. Vom Beobachter des 19. Jahrhunderts wurde überdies verlangt, dass er seine menschlichen Eigenschaften ablegt und die eigene Position nicht in die Beschreibung der Beobachtung eingehen darf.
Aber so paradox es auch erscheinen mag, gerade die angestrebte Objektivierung hat zu schwerwiegenden Fehlinterpretationen geführt. Da in der jüngeren Geschichte der Wissenschaft und speziell der Kybernetik die Position des Beobachters/Forschers in Bezug zum Gegenstand der Beobachtung nicht mehr länger als neutral oder objektiv eingestuft werden kann, da die Beobachtung an sich einen Einfluss auf das Ergebnis der Beobachtung hat.


„Unsere Anschauung von der Welt, wird durch ihre Vermessung verändert.“  (H.v.F.)

An dieser Stelle muss man festhalten, dass erst die Interpretation der Daten darüber Auskunft gibt, welche Informationen durch Auswertung von Daten in unser Wissen eingehen. Diese Informationen wiederum werden durch Sprache kommuniziert, einer weiteren möglichen Fehlerquelle für die Erlangung des Bedeutungsgehalts einer Information. Dieser Text kann als Musterbeispiel für diese These wahrgenommen werden. Er erinnere an eine der vorangestellten Aussagen: „Die Hörer, nicht die Sprecher, bestimmen die Bedeutung einer Aussage.“


Das würde bedeuten, dass die Schauspieler*innen nicht mehr sicher sein können, ob sich das, was sie zu erzählen versuchten, auch an ein Publikum übertragen hat. Sie müssten das Publikum, und zwar einzeln, befragen, was sie eigentlich gesehen haben. Und das ist auch logisch. Denn die Schauspieler sind die einzigen im Saal, die das Stück nie gesehen haben. Sie könnten darüber berichten, was sie glauben gespielt und ausgedrückt zu haben, aber nicht über seine Bedeutung.
Ich würde gern noch hinzufügen, dass die Interpretationsvielfalt, die im Publikum entsteht, nicht ein Fehler der Dramaturgie ist, sondern ein Gewinn für den Diskurs über unsere Anschauung von der Welt anhand einer Modellsimulation.


Im Folgenden ist nun eine Überprüfung der Erkenntnisse und Thesen der Kybernetik zweiter Ordnung nach Heinz von Foerster an Hand ihrer Prinzipien auf unsere eigene Arbeit von Interesse und wir werden versuchen, sie darauf anzuwenden und zu ergründen, was es für Konsequenzen hätte, sie in unsere Arbeitsweisen am Theater bewusst mit einzubeziehen.